Ich bin jetzt 31 Jahre alt und ich habe mich bis vor einem Jahr als heterosexuell identifiziert. Es kam mir nie in den Sinn meine Sexualität anzuzweifeln. Mein Leben lang wurde mir von der Gesellschaft beigebracht, dass es normal wäre heterosexuell zu sein. Man kriegt immer wieder Anfeindungen gegenüber Menschen mit, die nicht dem entsprechen, was unsere Gesellschaft als Normalität ansieht. Dadurch, dass man diese Erfahrungen über sein Leben weg immer wieder macht, nimmt man dieses Bild irgendwann selbst an. Ein Beispiel dafür ist, dass Menschen Dinge als „schwul“ bezeichnen, wenn man sie als etwas als negativ darstellen wollen.
Homosexualität wird mittlerweile zum Glück besser akzeptiert als früher. Leider gibt es immer noch genug Menschen, die Homosexualität zu ihrem Feindbild gemacht haben. Wenn ich näher darüber nachdenke, habe ich vielleicht früher auch schon einmal sexuelles Interesse an Männern gehabt. Da es mir aber nicht anders beigebracht wurde, habe ich dafür eine starke innere Ablehnung entwickelt und aufkeimende Gefühle sofort verdrängt. Ich kam ohnehin früher nie wirklich mit mir selbst zurecht und hatte mich nie so akzeptiert wie ich bin.
Vielleicht war mein Lebenswandel über die letzten Jahre ausschlaggebend dafür, dass ich gelernt habe mich so zu akzeptieren wie ich bin. Als ich vor einigen Monaten gemerkt habe, dass ich Männer sexuell anziehend finde, habe ich beschlossen diese Gedanken nicht mehr zu verdrängen und zu erforschen. Dies war natürlich am Anfang sehr schwer. Durch meine soziale Phobie ist mir die Konfrontation noch schwerer gefallen, da ich mich nicht getraut habe über das Thema zu sprechen. Ich habe mehrere Monate mit keinem Menschen über meine Neigungen gesprochen.
Da ich nicht wusste wie ich mit mir selbst umgehen soll, haben ich zunächst angefangen mich mit Literatur zu LGBT-Themen zu beschäftigen. Dadurch konnte ich mich zumindest schon einmal ein wenig in dieser neuen Welt zurechtfinden. Ich konnte mich dadurch zunächst mit einigen grundlegenden LGBT-Themen vertraut machen, wie z.B. welche verschiedenen sexuellen Orientierung es gibt oder wie man mit dem Coming-Out umgehen kann. Dies hat mir geholfen zumindest schon einmal ein wenig mehr über meine eigene Sexualität zu erfahren.
Als nächsten Schritt habe ich entschlossen mich im Internet zu informieren. Dies war teilweise auch schon eine Herausforderung für mich. Ich bin anfangs verschiedenen Gruppen auf Facebook beigetreten. Da ich jahrelang kein Facebook benutzt habe, war ich dies bezüglich sehr unsicher. Ich wusste nicht was mich in den Gruppen erwartet und war sehr unsicher bezüglich der Bedienung von Facebook und der Sichtbarkeit meiner Aktivitäten gegenüber anderen.
Ich war in einer Phase, in der ich auf keinen Fall wollte, dass irgendwer von meiner Sexualität erfährt. Dennoch wusste ich, dass ich mich diesen Ängsten stellen muss. Für mich war es erst einmal nur wichtig Erfahrungen von anderen zu lesen und meine eigene Reaktionen gegenüber Menschen zu beobachten und hinterfragen, die in diesen Gruppen unterwegs waren. Mir hat dies sehr stark geholfen um die ersten inneren Blockaden zu lösen. Ich habe 30 Jahre lang gelernt, dass jeder der nicht heterosexuell ist, nicht normal ist und musste dieses veraltete Bild, dass sich in mir eingebrannt hat, erst einmal anzweifeln und verarbeiten.
Ich war also zumindest schon einmal an einem Punkt angekommen, an dem ich bereit war meine Sexualität weiter zu erforschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits akzeptiert, dass ich nicht heterosexuell bin. Mir war noch nicht klar, welches Label ich mir selbst verpassen sollte. Über die Monate hab ich gemerkt, dass ich mich immer noch für Frauen interessiere. Ich hatte Tage an denen ich mich stark für Männer interessiere und dann wieder Tage an denen ich mich nur für Frauen interessiere. Dadurch kommt man irgendwann an einem Punkt an, an dem man die eigene Sexualität komplett in Frage stellt. An Tagen an denen ich mich nur für Frauen interessiert habe, habe ich angezweifelt ob ich überhaupt Interesse an Männern habe. Es gab aber auch Tage, an denen dies genau umgekehrt war. Ich war mir also immer noch sehr unsicher bezüglich meiner Sexualität.
Zu diesem Zeitpunkt habe ich dann beschlossen mich auf Reddit zu dem Thema zu informieren. Dort bin ich dann bei /r/bisexual gelandet. Dieser Subreddit hat mir sehr stark geholfen einige Dinge zu erkennen. Ich habe erkannt, dass mein „bicycle“ etwas Normales ist. Es wird immer Tage geben, an denen ich mich vielleicht zu einem Geschlecht mehr hingezogen fühle, als zu einem anderen. Ich habe erkannt, dass ich meine Sexualität nicht von bisherigen sexuellen Erfahrungen abhängig machen muss. Ich hatte bisher keinen sexuellen Kontakt zu Männern. Trotzdem habe ich das Recht mich als bisexuell zu bezeichnen, da ich die Neigungen habe auch gegenüber meinem eigenen Geschlecht offen zu sein. Ich habe viel über die Coming-Outs von anderen gelesen. Insgesamt fühlte ich mich sehr viel sicherer bezüglich meiner eigenen Sexualität.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden welches Label zu meiner Sexualität passt. Für mich kamen aber nur noch zwei Labels in Frage, Bisexualität und Pansexualität. Ich habe es zunächst schwer gefunden zu entscheiden welches Label besser passt. Um mir darüber bewusst zu werden, habe ich mich zunächst mit den Themen Trans*, Intersexualität und Nicht-Binärer Geschlechtsidentität beschäftigt, da es bei der Unterscheidungen zwischen Pan und Bi hauptsächlich darum geht, ob man sich von mehr als 2 Geschlechtsidentitäten angezogen fühlt.
Ich habe im Endeffekt für mich erkannt, dass es mir egal ist, welche Geschlechtsteile ein Mensch hat. Mir ist der Mensch selbst wichtiger. Ich denke ich könnte mich sowohl als Bi- als auch als Pansexuell bezeichnen. Dabei finde ich mich aber in folgender Definition der amerikanischen Aktivistin und Autorin Robyn Ochs wieder: “Ich nenne mich bisexuell, weil ich das Potenzial habe, romantische und / oder sexuelle Anziehung zu Menschen mehr als eines Geschlechts zu haben – nicht unbedingt zur selben Zeit, auf dieselbe Art und Weise, oder gleich intensiv.”
Ich wusste nun was ich bin. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, wie ich damit umgehe und wie ich es ausleben möchte. Nach einiger Zeit habe ich das Thema in meiner Psychotherapie angesprochen. Das war sehr schwer für mich, da es das erste Mal war, dass ich darüber gesprochen habe. Ich konnte überhaupt nicht einschätzen wie andere Menschen damit umgehen. Darüber zu sprechen hat mir schon ein wenig Sicherheit gegeben. Als nächstes habe ich mich an eine Beratungsstelle in der benachbarten Stadt gewendet. Dort habe ich zeitnah einen Beratungstermin bezüglich meiner Sexualität erhalten.
Kurz vor dem Termin hatte ich dann mein erstes Coming-Out gegenüber meinen Eltern. Ich habe mir über mehrere Tage hinweg immer wieder Gedanken darüber gemacht. Da ich nun wusste was ich bin, wollte ich auch dazu stehen, hatte aber unglaublich viel Angst davor was passiert, wenn ich mich jemandem anvertraue. Ich habe mir wieder die schlimmsten Gedanken gemacht, auch wenn ich innerlich wusste, dass ich gegenüber meinen Eltern nichts zu befürchten habe. Ich hatte Angst vor Ablehnung und davor die Beziehung zu meinen Eltern dadurch kaputt zu machen, falls sie ein Problem damit haben. Es hat einige Versuche gebraucht bis ich mich getraut habe und es war eine sehr starke psychische Belastung. Meine Eltern haben zum Glück sehr verständnisvoll reagiert und akzeptieren mich so, wie ich bin. Ich hatte mir umsonst Sorgen gemacht.
Mein Beratungsgespräch hat mir ebenfalls sehr geholfen. Ich wurde sehr nett und freundlich bezüglich meiner Sexualität beraten. Dabei hatte ich die Gelegenheit zu allem was mir noch Sorgen bereitet Fragen zu verstellen und habe mich dort verstanden und akzeptiert gefühlt.
Ich habe mich bisher nur gegenüber wenigen weiteren Menschen geoutet. Jedes Outing ist für mich immer wieder eine hohe psychische Belastung, da ich jedes Mal aufs neue Angst vor Ablehnung habe. Ich befürchte bei jedem Outing, dass ich Menschen deswegen nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, die mir wichtig sind. Bisher haben alle Menschen, gegenüber denen ich mich geoutet habe, meine Sexualität akzeptiert. Ich werde aber irgendwann an den Punkt kommen, an dem ich Ablehnung erfahren werde. Bei Fremden wäre mir das auch egal. Da ich nur einen sehr begrenzten Freundeskreis habe, habe ich bei diesen Menschen jedoch sehr viele Sorgen bezüglich dem Outing.
Mir wurde u.a. auch gesagt, dass ich eigentlich gar keinen Grund habe mich jetzt schon zu outen, weil ich keine Beziehung mit einem Mann führe. Darum geht es mir aber nicht. Selbst wenn ich später mit mein Leben mit einer Frau verbringen sollte, würde ich mich immer noch als bisexuell bezeichnen. Mir ist es wichtig mich nicht selbst zu verleugnen. Ein anderes wichtiges Thema ist Sichtbarkeit. Andere Menschen haben immer noch Vorurteile gegenüber Menschen im LGBT-Bereich und man kann diese Vorurteile am besten bekämpfen indem man selbst zeigt, dass man ein Mensch ist wie jeder andere auch. Ich muss nicht jedem Menschen von meiner Sexualität erzählen. Ich möchte mich aber auch nicht selbst verleugnen. Wenn das Thema aufkommt, möchte ich offen dazu stehen. Ich akzeptiere mich selbst so wie ich bin und meine Sexualität gehört dazu.